Ab Januar 2026

Mistral, Mistral

Zeit ihres Lebens stehen sich die eineiigen Zwillingsschwestern Inés und Sotine Favre mit Zwietracht und Missgunst gegenüber. Inés als erfolgreiche Künstlerin, Sotine als gefragte Architektin. Während Inés in den 60er und 70er Jahren im Trubel des südfranzösischen Jet Set in die Drogenabhängigkeit rutscht, macht Sotine mit spektakulären Bauprojekten Karriere. 2002 stirbt Sotine, acht Jahre nach ihrer Schwester Inés, in Berlin unter fragwürdigen Umständen. Ihr Neffe Philipp Morel, der von seiner Mutter Inés mit sieben Jahren verlassen wurde, erbt damit ein großes Vermögen. Indem er mit der Anwältin Sabine König die Aufzeichnungen seiner Tante sichtet, taucht er in die Geheimnisse seiner Familie ein: Was steckt hinter dem Berliner Immobilienskandal ›Grüne Düne‹? Welche Rolle spielte Sotines künftiger Ehemann Gerard Bertrand? Und was hat es mit dem Gemälde ›Mistral, Mistral‹ auf sich, das letztlich über Leben und Tod entscheiden sollte? Was wie die harmlose Geschichte zweier ungleicher Schwestern beginnt, führt nach und nach zu der dramatischen Erkenntnis, dass trotz genetischer Gleichheit konträre Lebensläufe zwar möglich sind, die einzelnen Schicksale in letzter Konsequenz aber doch verblüffende Übereinstimmungen zeigen können …

Leseprobe:

Philippe, Dienstag, 19. November 2002, Nachmittag.
Da das Berliner Institut für Rechtsmedizin in der Charité sitzt, unweit von der Staatsanwaltschaft, gehen wir auch nach dem Mittagessen wieder zu Fuß. Obwohl die Speisekarte voll davon war, habe ich auf typisch regionale Hausmannskost verzichtet und eine Suppe plus Salat gegessen. Genauso wie meine Anwältin, von der ich genau genommen auch nichts anderes erwartet hätte. Natürlich habe ich eine Schwäche für deftiges Essen, behalte es mir aber meist für den Abend vor. Bei unserem Termin werden wir auf Professor Gerd Heidenreich treffen, einem Bekannten von Sabine König, was mich ein wenig beruhigt.
»Dürfen die uns denn jetzt überhaupt schon etwas sagen?«, frage ich, worauf sie eine beschwichtigende Handbewegung macht.
»Je nachdem, welche Verdachtsmomente vorliegen. Allgemeine Umstände wird Gerd uns erzählen. Das, was eventuell eine strafrechtliche Relevanz hat, muss zuerst an die Staatsanwaltschaft gegeben werden, denn sie ist in diesem Fall der Auftraggeber. Irgendwann werden wir aber auch davon erfahren, spätestens, wenn Sie die nächste Vorladung bekommen Philippe.«
Rechtsmediziner, klärt sie mich weiter auf, hätten schon so manchen spektakulären Fall entschleiert. Denn im Feld zwischen Medizin und Rechtsprechung würden sich auch Selbstmorde oder scheinbar natürliche Tode bei genauerer Untersuchung oft als raffiniert eingefädelte Morde entpuppen.
»Werde ich ein Alibi brauchen?«, frage ich in einem Ton, der die Ernsthaftigkeit des Umstands ausschließen soll. Obwohl ich es ernst meine. Prompt lacht sie diesmal lauter auf.
»Also wirklich, Philippe, wie oft fragen Sie mich das noch? Man könnte meinen, sie verbergen tatsächlich etwas. Ein Alibi sollten sie doch haben, oder?«
Sabine König ist stehengeblieben und sieht mich von der Seite an. Bitte jetzt nicht die Haare hinters Ohr schieben, denke ich, und mache Anstalten weiterzugehen.
»Tut mir leid, seit dem Tod meiner Mutter reagiere ich allergisch auf alles, was in diese Richtung geht.«
Sie ergreift meinen Oberarm und ich drehe mich zu ihr um.
»Tut mir auch leid, Philippe«, sagt sie mit schuldbewusstem Blick. »Daran hab ich nicht gedacht.«
Wir stehen dicht voreinander und ich warte darauf, dass sie meinen Arm loslässt, was nicht geschieht.»Ich werde auf alles aufpassen«, flüstert sie und kommt noch näher. Ein zitroniges Parfüm steigt mir in die Nase und ich bemerke die kleinen Lachfalten in ihren Augenwinkeln. Sabine hat meine zurückweichende Haltung bemerkt und lässt mich los. Stumm laufen wir auf das Gebäude der Klinik zu, die mittlerweile vor uns auftaucht.
»Vielleicht ist es noch wichtig zu wissen, dass stets zwei Rechtsmediziner gemeinsam am Werk sind«, sagt sie, jetzt wieder im gewohnt sachlichen Tonfall. »Damit alles gründlich und unter Zeugen geschieht. Sie halten schon im Verlauf der Obduktion mit Hilfe eines Diktiergeräts sämtliche Untersuchungsergebnisse und Beobachtungen genauestens fest.«

Auszug "Mistral, Mistral"

Inés – Notizen, Paris, Sommer 1963
Wenn in Paris die ersten Bistros öffnen, die Straßenkehrer die Bürgersteige fegen und der Müll der letzten Nacht aufgeladen wird, ist dies meist die Stunde, in der ich Julien einen sanften Kuss auf die Stirn hauche. Um ihn nicht zu wecken und ihn noch eine Weile in jenem Traum zu lassen, der ihn womöglich gerade in unsere vergangene Nacht zurückführt. Leise schließe ich die Tür und laufe, so wie jeden Montag, durch das erste Licht des um diese Zeit noch angenehm kühlen Tages. In den gefluteten Bordsteinen schwimmen Papier, Salatblätter und allerlei Undefinierbares an mir vorbei und ich denke an Professor Calvas, der dies einmal die ›Morgendusche der Stadt‹ nannte. Die ersten Sonnenstrahlen sauge ich vor dem ›Café Belford‹ ein, wo ich, in meine Strickjacke gehüllt, Kaffee trinke und in die Morgenzeitung schaue, derweil ich kleine Stücke vom Croissant knabbere. Helene wird wie immer kurz nach halb acht die Galerie aufschließen, damit ich sogleich darangehen kann, die eingetroffenen Schmuck-Exemplare vom Samstag zu katalogisieren. Doch bis dahin ist noch Zeit und ich beobachte, wie Menschen den kleinen Platz überqueren, durch die gegenüberliegenden Arkaden laufen und jeder für sich das reflektieren mag, was heute vor ihm liegen dürfte.
Fast auf die Sekunde genau sehe ich ihn. Wie er langsam mit schwarzer Aktentasche in Richtung Banque Populaire schreitet und 15 Minuten später wieder zurückkommt. Von Helene weiß ich, dass er Gerard heißt und bei ›Les Baguettes‹ arbeitet, das zwei Straßen von hier entfernt liegt. Manchmal kommt er zu ihr in die Kunstgalerie, um etwas zu kaufen. Meist kleine Kostbarkeiten, die alles andere als günstig sind, was uns annehmen lässt, Gerard sei mehr, als ein gewöhnlicher Bäckerei-Angestellter.
Auch wenn er im Aussehen nicht an Julien heranreicht, hat er etwas Anziehendes, das ich nicht genau zu definieren vermag. Julien kann im klassischen Sinn als ›schön‹ bezeichnet werden, so, dass er schon manchem alten Meister als Modell hätte gefallen können. Weshalb ich ihn in der ›École des Beaux-Arts‹ auch als ein solches fürs Fach ›Aktzeichnen‹ kennenlernen durfte, was meinen Freundinnen die Grundlage für jede Menge anzüglicher Witze, lieferte. »Nicht die Katze im Sack gekauft« oder »Lieber erst ein Modell als gleich das Original« und weitere oft noch direkter formulierte Aussagen waren ihre damaligen Kommentare. Obwohl ich zugeben muss, dass eine Erotisierung fraglos schneller geht, wenn einem das gegenüber unverhüllt gegenübersteht. So kamen mir schon beim Skizzieren Umstände in den Kopf, die mit dem in sämtlichen Körperbereichen äußerst entspannt vor mir liegenden Mann nicht mehr viel gemein hatten. Speziell beim Zeichnen bestimmter Partien, ganz dem Hinweis eines meiner Professoren zum Trotz, der einmal sagte: »Beim Aktzeichnen müssen Sie hinsehen, ohne zu schauen.«
Wie die meisten Aktmodelle war Julien professionell genug, auf keinerlei Versuche meinerseits einzugehen, mit ihm in Augenkontakt zu treten. Doch als wir uns später einmal in der gleichen Schlange der Cafeteria wiederfanden, war er um einiges wacher und schlagartig so zielgerichtet im Flirten, dass wir noch am selben Abend Arm in Arm durchs Quartier latin zogen.

Auszug Mistral, Mistral"

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